erschienen in KP 28 2016

Was ist das Subjekt?

Der Ausgangspunkt der Überlegungen zum Subjekt kann durch eine Paraphrase  dargestellt werden:  „Das soziale Getriebe der Gesellschaften, in welchen die Ordnung des Modernen Ensembles herrscht, erscheint als ungeheure Ansammlung von subjektiven Akten, das einzelne Subjekt als seine Elementarform.“

Mit dem Modernen Ensemble sind unsere gegenwärtigen herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse gemeint: kapitalistische Produktionsweise, Nationalstaatlichkeit, paradoxe Gesellschaftlichkeit, in der das einzelne Individuum durch seine Handlungen, die sein eigenes Glück befördern sollen, das Glück aller bewirken muss.

Diese Form paradoxer Gesellschaftlichkeit ist schon in den frühesten Dokumenten bürgerlicher Gesellschaft und Geselligkeit niedergelegt. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 heißt es im ersten Satz der Präambel in der deutschen Übersetzung, einen Tag nach der Deklaration in der deutschsprachigen Zeitung „Pennsylvanischer Staatsbote“ in Philadelphia abgedruckt:
„Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Und nur ein paar Jahre später, 1785, formuliert Kant seinen Kategorischen Imperativ (in seinem Werk Grundlegung zur Metaphysik der Sitten), der ebenso berühmt und ebenso wichtig für das Selbstverständnis der bürgerlichen Gesellschaft werden soll. Er lautet in seiner so genannten Grundformel folgendermaßen:
„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Auffallend ist in beiden Zitaten eine implizite und explizite Hinwendung und Aufforderung an ein Individuum, das als vernünftig und verantwortungsvoll gedacht wird. Mit dieser Vernunft und Verantwortung ist aber auch die völlige Abstraktheit und inhaltliche Leere des Gesellschaftlichen, der gesellschaftlichen Verhältnisse verbunden. Erst das vernünftige, verantwortungsvoll handelnde Individuum stellt Gesellschaft her. Die Präambel der Unabhängigkeitserklärung macht es klar: Das Streben nach Glückseligkeit (pursuit of happiness) ist nun ein individuelles Recht. Daraus folgt: Wer unglücklich ist, hat dieses sein Recht nicht in Anspruch genommen und ist an seinem Unglück selbst schuld. (Es rettet uns bekanntlich kein höh’res Wesen …) Kant zieht daraus die Konsequenzen auf drastische Art und aus dem Recht wird ein Imperativ. Nun ist die Schlussfolgerung: Sind die gesellschaftlichen Verhältnisse schlecht, ungerecht oder sonst unpassend, dann fällt auch dies auf das Individuum zurück, das offensichtlich sich nicht um die richtigen Maximen des Handelns bemüht hat. Goethe sagt dazu im Faust 1831: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

Was ebenso auffallend an den beiden Zitaten ist, ist, dass sie eine Verpflichtung aussprechen, der keins entkommen kann, es sei denn um den Preis des gesellschaftlichen Ausschlusses, der Ächtung. Wer die Prämissen dieses gesellschaftlichen Handelns (Berechtigung und Verpflichtung zum eigenständigen Handeln) nicht erfüllen will, kann oder darf, ist bildlich und oft genug real zum Abschuss freigegeben. Wenn wir zusammenfassen, dann sprechen die Gründerväter und der Philosoph von einem Handeln, dem sich keins entziehen kann und das – gewaltsam, obligatorisch –gesellschaftlich ist.

Ich möchte noch hinzufügen: das öffentlich ist. Öffentlichkeit des Handelns ist es, das das Subjekt ausmacht. Es gibt ja auch gesellschaftlich notwendiges Handeln, das nicht öffentlich geleistet wird, nämlich das Handeln in der Privatheit, in der Abspaltung. Dieses wird zwar verschwiegen, negiert und in der Regel nicht bezahlt, aber ich möchte jetzt beim Subjekt und der Öffentlichkeit bleiben.

Handeln in der Öffentlichkeit bedeutet, Ansprüche geltend zu machen, Unternehmungen zu formulieren. Diese sind deswegen subjektive Akte, weil sie individuell vorgetragen werden, und öffentliche, weil durch sie sich das Wohlergehen aller herstellen soll. Dieses Phänomen einer unsichtbaren Hand, die alles richtet, ist in der Beschreibung der bürgerlichen Gesellschaft, des Modernen Ensembles, eine gut eingeführte Figur. Eine Stammtischvariante dieser Vorstellung lautet beispielsweise: „Geht s der Wirtschaft gut, geht s allen gut.“ Dabei können wir auch sehen, dass das Subjekt nicht unbedingt ein empirisch einzelnes menschliches Individuum sein muss. Als Subjekte können auch Zusammenschlüsse wie Vereine, Klassen oder Staaten agieren. Wesentlich ist, dass sie dies mit eigener Unternehmung oder mit eigenen Interessen (also verallgemeinerten Unternehmungen) tun und dass sie dies notwendigerweise konkurrent tun.

Dieses Eintreten in die Öffentlichkeit mit der Definition der eigenen Unternehmung, dem Geltendmachen der eigenen Ansprüche – und, nebenbei bemerkt, der Formulierung der eigenen Geschichte – ist dann das, das schlechthin als Emanzipation bekannt ist. Emanzipation ist der erfolgte und erfolgreiche Kampf um die Anerkennung als Subjekt in der bürgerlichen Gesellschaft. Wir kennen dies als die Emanzipation des Dritten Stands zur Nation, als die Emanzipation der Arbeiterklasse von Rechtlosen, Ausgebeuteten, Randständigen zu Staatsbürgern, als die Emanzipation der Frauen von Rechtlosen zu Staatsbürgerinnen, als die Emanzipation unterdrückter Kolonialvölker oder Nationalitäten in Vielvölkerreichen zu Nationalstaaten.

Emanzipation ist also der Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft, nicht deren Überwindung. Subjekte, die sich als solche konstituieren, formulieren zwar ihre Ansprüche und Unternehmungen, müssen aber dabei ihre Gleichförmigkeit gegenüber anderen Subjekten in Kauf nehmen. Nationale Emanzipation aus dem Kolonialstatus heraus, antiimperialistischer Kampf um Befreiung beispielsweise: Sie kennen nur das Ziel des Nationalstaats. So konstituieren sich dann Gebilde wie die südafrikanische Regenbogennation oder die algerische Nation, die jede Eigenheit ihrer Bestandteile unter dem größeren Prätext der vereinheitlichten, wiewohl abstrakten Nation verleugnet. Als Subjekt in die bürgerliche Gesellschaft einzutreten, heißt logischerweise, seiner Eigenarten zu entraten.

Dies gilt aber auch für das empirische Individuum. Im öffentlichen Leben herrscht bei aller Konkurrenz die Eintönigkeit der vernünftigen und verantwortungsvollen StaatsbürgerInnen. Streben nach Glückseligkeit wird nur gemessen am wirtschaftlichen, politischen oder sozialen Erfolg und dieses Messen ist ein öffentliches, ein konkurrentes. Eigenarten werden dabei nicht zur Schau gestellt. Wer das tut, macht sich sozial verdächtig oder wird zum Objekt für die yellow press. Eigenheiten, Eigenschaften, Eigenarten sind Sache der Privatheit und werden daher nur in der Abspaltung vollkommen ausgelebt. In der Öffentlichkeit aber gehen die Subjekte mit Eigenarten vernünftig und verantwortungsvoll um. Sie verschwinden also hinter der Subjektivität, wie paradox das auch klingen mag.

Subjektivität ist ja nicht – entgegen dem alltäglichen Sprachgebrauch – der Ausdruck spezifischer empirischer Eigenschaften verschiedener empirischer Menschen, sondern im Gegenteil die abstrakte Form gesellschaftlichen Handelns, in die die Subjekte durch Emanzipation und freiwillige Unterwerfung (die Einsicht in die Notwendigkeit von Vernunft und Natur) gezwungen werden. So ist auch die eigene Meinung, die eins nun einmal haben darf, nicht nur Errungenschaft gegenüber früherer Willkür der Fürsten, nein, sie ist etwas, das das Subjekt haben muss, will es sich als Subjekt konstituieren und anerkannt werden.

Meinungen sind gesellschaftlich notwendige Aussagen und werden öffentlich geäußert und öffentlich der Konkurrenz ausgesetzt. Unnötig zu sagen, dass diese eigenen Meinungen, Teil und Ausdruck der Unternehmung, je nach Gelegenheit und Lage eine jeweils andere sein kann. Meinungen haben also keinen Anspruch auf Wahrheit, oder höchstens, solange sie nicht widerlegt oder überstimmt werden. Aber ohne Meinung geht gar nichts, es sei denn in Bereichen, die nicht öffentlich sind.

Dort – also in den Regimes der Produktion, der Ausbildung, der Abspaltung – nimmt die gesellschaftlich notwendige Äußerung die Form des Befehls an und erhebt Wahrheitsanspruch. Der Befehl wird aber freiwillig ausgeführt, das heißt sie Subjekte geben ihre Subjektivität auf und unterwerfen sich – oder sie stellen die Machtfrage, um das Regime zu ändern oder zu übernehmen. Dies ändert aber noch immer nichts daran, dass etwa in Fabrik und Büro befohlen wird, auch wenn der Betriebsrat dabei mitbestimmt.

Ebenso freiwillig und durch Einsicht entraten aber die Subjekte der Subjektivität, wenn Natur und Vernunft bedroht sind. Sie geben dann ihre eigene Unternehmung auf und verhalten sich nicht mehr konkurrent sondern uniform, was sich dann auch in der Kleidung ausdrückt; von der Krankenschwester über den Feuerwehrmann bis zum Soldaten, von der Schuluniform bis zur Arbeitskluft der corporate identity wird die (temporäre) Aufgabe der Subjektivität ausgedrückt. Die empirischen Menschen sind nun Objekt des Notstands oder der Katastrophe oder auch nur der pädagogischen Zurichtung durch die Gesellschaft. Wo also Subjektivität die gesellschaftliche Form des öffentlichen Handelns ist, ist die Objektivität die gesellschaftliche Form der Behandlung. Mit Wahrheit haben beide nichts zu tun.